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Was Agilität mit Sozialismus zu tun hat


Last updated: 01.07.21
Was Agilität mit Sozialismus zu tun hat

Agilität und Sozialismus, das sind, überspitzt gezeichnet, die beiden Enden meines Lebens. In der DDR geboren, mit Pionierliedern und den Idealen des Marxismus-Leninismus groß geworden und nun Geschäftsführerin von trendig, einem Berliner Unternehmen, dass rund um Digitalisierung und agile Transition vor allem auf das Wohlbefinden und Miteinander in Teams und die individuellen Fähigkeiten der Menschen hinter den Produkten und Arbeitsabläufen fokussiert. Aber rechtfertigt allein meine Vita diesen kühnen Bogen? Natürlich nicht, darum hier meine Denkanstöße zum Thema:

 

1. Ein Manifest und dessen Auslegungen

Wer sich zum Thema Agilität fundiert äußern möchte, kommt um das Agile Manifest nicht herum. Ursprünglich 4 Leitsätze zum Lieber-das-eine-als-das-andere, wobei man schon im Nachsatz klar stellte, dass das andere nicht gänzlich schlecht sei, nur eben nicht ganz so wertvoll. 12 Leitsätze folgten wenig später, da der Spielraum, was denn das Manifest für die berufliche Umsetzung genau bedeuten sollte, doch noch sehr weit war. Ähnlich verhält es sich in Sachen Sozialismus: Wer diesen propagiert, kann nicht ohne die von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest vorgetragene Weltanschauung argumentieren, ihrem Werk oblag lange die Deutungshoheit der sozialistischen Bewegung. Auch hier wurden entscheidende Grundlagen theoretisch ausformuliert, deren Auslegungen für ein gesellschaftliches Miteinander in diesem Sinne waren dann, nunja, nennen wir es lapidar vielfältig, um hier nicht politisch wertend zu werden. 

 

2. Emotionalität und Anhängerschaft

Womit wir bei meinem zweiten Punkt wären: Wo so viel Spielraum ist, der gefüllt werden kann, wo Leitsätze zu einer individuellen Änderung des eigenen Handelns in diesem Sinne aufrufen, steckt viel Emotionalität des Einzelnen. Wenn etwas „zum Besseren bewegt“ werden soll – und das ist die Intention beider Manifeste – dann setzt das die individuelle Positionierung gegen das Bestehende voraus und somit eine Identifizierung für eine neue gute Sache. Man wird zum Anhänger des neuen Propagierten, man muss andere überzeugen, man wird emotional eingebunden. Von der angestrebten Reform ist es nicht weit zur ausgerufenen Revolution. Jetzt oder nie. Dafür oder dagegen. 

 

3. Die wissenden Arbeiter gegen die bestimmenden Mächtigen

Und wer ist hier gegen wen? Auch hier ähneln sich die Klassenkämpfe für Agil-Verfechter und Sozialismus-Anhänger. Während für letztere die Arbeiterklasse gegen die Kapitalistenklasse aufbegehren sollte (ein Klassenkampf, an deren Ende die Aufhebung des Privateigentums der Ausbeutung der Arbeiter ein Ende machen sollte, zugunsten einer klassenlosen Gesellschaft), sind es in agilen Projekten ebenfalls die „Arbeiter“, die als Persönlichkeiten mit eigenen Bedürfnissen und ihrem Können gepflegt, unterstützt und motiviert und individuell geschätzt werden sollen. Nicht als Humankapital-Masse, deren Teilnehmer beliebig austauschbar bleiben. Niemand „von oben“ soll bestimmen, sondern das Team soll sich selbst organisieren, reflektieren. Wertschätzende Kommunikation auf Augenhöhe zwischen allen Beteiligten ist essentieller Bestandteil agilen Arbeitens: Ein klassenloses Arbeitsleben, um im Bild zu bleiben.

Ein kleines Mädchen in der Hand einer kleinen Puppe

 4. Homogenität und menschliche Individualität als Garanten für Erfolg und Scheitern

Klassenlos heißt aber in der realen Umsetzung, dass jede und jeder mit dem, was die Gruppe erreicht, zufrieden sein muss. Es setzt voraus – sowohl in der sozialistischen als auch in der agilen Denkweise – dass jedes einzelne Gesellschafts- bzw. Teammitglied den Beitrag der anderen anerkennt in der unkritischen Annahme, dass dieser Beitrag auch das Bestmögliche war, das jede und jeder geben konnte. Und damit leben kann, dass auch wenn er oder sie mit einem anderen Team vielleicht noch mehr geschafft oder erreicht hätte, zugunsten des Miteinanders von allen auf dieses Weiterkommen verzichten kann. Wenn die Abstriche nicht zu groß sind, ist das Miteinander menschlich noch nicht gefährdet. Ehrgeizige Mitglieder der Gruppe stoßen aber hier an Grenzen, die sie unter Umständen, wenn wiederkehrend, nicht bereit sind zu akzeptieren. 

Besonders schwierig wird es erst, wenn nicht nur die Leistungsträger zurückstecken, sondern Team- oder Gesellschaftsmitglieder sich in die Hängematte legen, und ganz bewusst die eigenen Ressourcen schonend in der wohligen Atmosphäre des Miteinanders nicht das Bestmögliche, sondern nur das Nötigste oder noch nicht einmal das geben. Denn dann beginnt das klassenlose Alle-für-Alle ins Trudeln zu geraten. Die Erfolge werden kleiner, die Unzufriedenheit der Mehrheit größer und die Kluft zum Möglichen für einige Mitglieder des Teams oder der Gesellschaft unaushaltbar. Weder Sozialismus noch Agilität sind für individuelles Zurücknehmen und Die-anderen-machen-lassen gemacht. Der Erfolg hängt entscheidend vom oben genannten Willen zu Teamwork und Toleranz, einer ungefähren Leistungs-Homogenität der Gruppe und der Sozialkompetenz der einzelnen Gruppenmitglieder ab. Daher lässt sich vereinfacht subsumieren: Je kleiner das agile Team bzw. das soziale Gefüge, desto besser lassen sich Agilität und Sozialismus umsetzen und mit Leben füllen, da sich eine Leistungs- und Ziel-Homogenität mit zunehmender Größe der interagierenden Gruppe immer schwerer herstellen lässt. Das erklärt auch, warum bisher kaum ein Großkonzern die Umstellung zu Agilität auf allen Ebenen schafft und es keinen echten aus der Organisation seiner Bürger heraus funktionierenden sozialen Staat gibt: Es ist die Individualität der Menschen. Umso mehr Mitglieder mitwirken, umso schwieriger lässt sich Homogenität herstellen. Und umso schneller geht die Entwicklung nach verheißungsvollem guten Start einiger agiler Teams oder sozialer Kommunen in Richtung Top-Down-Unternehmensführung oder eben Ein-Parteien-Diktatur in sozialistischen Staaten – letzteres natürlich nur grob vereinfacht und plakativ betrachtet.

 

5. Homogenität vs. Diversität von Teams

Eine Vielzahl von Studien hat bereits empirisch bewiesen, dass nicht homogene, sondern diverse Teams in Unternehmen die besseren Entscheidungen treffen, in der Zielerreichung im Vergleich am besten abschneiden und Projekte profitabler machen. Wie lässt sich mit Blick auf diese Fakten obige Analyse aufrecht erhalten? Sie fügt sich nahtlos ein! Die in den Studien so positiv bewertete Diversität ist eine faktische: Alter, Geschlecht, Ausbildung, Berufserfahrung, Herkunft, usw. lassen die Menschen individuell sehr unterschiedlich sein. Die oben ausgeführte Homogenität aber ist eine stark emotional werteorientierte: Wenn es einem Team oder einer Gesellschaft gelingt, genau diese sehr vielen faktisch unterschiedlichen Individuen für eine gemeinsame Sache zu motivieren und im obigen Sinne in ihrem gemeinsamen Streben zu synchronisieren, dann steht das Miteinander von Beginn an auf einer sehr breiten Basis des Zugehörigkeitsgefühls. Man könnte sagen: Harmonische Homogenität trotz Diversität. Die harmonisch agierende Gruppe hat aufgrund ihrer diversenen Erfahrungshorizonte dann auf der Sachebene entscheidende Vorteile in der Problemlösungskompetenz. Im Miteinander wiegen die Unterschiede nicht schwer, da sie ja einem gemeinsamen (höheren) Ziel untergeordnet sind.

 

6. Was heißt das für den Arbeitsalltag?

Somit lässt sich ableiten, wann in der Praxis Agilität leicht gelingen kann und wann sie einer sozialistischen Utopie gleich eher zum Scheitern gerät: Es gilt als Team den Weg für ALLE zu finden. Der ganzheitliche Ansatz des sich selbst-organisierenden Teams ist nicht das Resultat agiler Zusammenarbeit, sondern deren Grundvoraussetzung. Jede und jeder muss mitgenommen werden und alle gemeinsam müssen sich immer wieder neu synchronisieren können. Eine sehr bewusste Reflektion der/des Einzelnen und des Miteinanders. Sind wir wirklich ein Team? Stehen wirklich alle Teammitglieder hinter den gesetzten Zielen? Ist wirklich jeder bereit, sein Bestes für den nächsten Sprint zu geben? Können wirklich alle damit leben, dass eine/r oder mehrere Mitglieder derzeit weniger abliefern als sie könnten, weil es in ihren Leben nun einmal auch andere Baustellen gibt? Wertschätzen wir uns? Können wir uns ehrlich die Meinung sagen, ohne zu verletzen? 

Orientierung bieten hier die fünf Werte von Scrum, die oftmals als gefühliges Beiwerk belächelt werden, aber im wesentlichen der direkte Schlüssel zum Erfolg sind:

 

1 Offenheit/Transparenz: Alle dürfen und müssen alles sagen können und oft genug die Gelegenheit dazu bekommen. Dies gilt für das Team untereinander genauso wie für die Kommunikation des Teams mit weiteren Beteiligten. In letzterer liegt meist die noch größere Herausforderung.

2 Mut: Ehrlichkeit ist nicht immer angenehm, sich Fehlern und Kritik zu stellen erfordert von jedem einzelnen Teammitglied Courage.

3 Respekt: Auch schwierige Herausforderungen wollen bewältigt werden. Dies kann nur durch den Dialog auf der Sachebene im respektvollen Miteinander gelingen.

4 Fokus: Je zielgerichteter das gemeinsame Arbeiten erfolgt, desto weniger Nebenschauplätze entstehen, die von den gemeinsamen Zielen ablenken.

5 Commitment: Wie oben schon ausgeführt, stellt sich nachhaltiger Erfolg nur durch echte Hingabe und intrinsische Motivation ein. Commitment hat auch noch eine weitere Dimension abseits der Team-Ebene: Auch die Unternehmensführung muss sich auf diese Art der Zusammenarbeit festlegen und die Ressourcen und Freiheiten dieser Art des Miteinanderarbeitens verlässlich zur Verfügung stellen. 

 

Es verlangt einem Team im Kleinen und dem Unternehmen im Großen viel ab, Homogenität als Fokus auf die gleichen Werte und Ziele herzustellen. Kommunikation auf Augenhöhe ist etwas, das auch und zuallererst die Einsichtigkeit in das eigene Tun und die eigenen Unzulänglichkeiten voraussetzt, die Reflektion der eigenen Person im Teamgefüge. Unternehmenslenker und Geschäftsführer eingeschlossen. Für alle, die agil arbeiten wollen, heißt das: Erst wer sich selbst gut kennt und zurücknehmen kann, kann einen respektvollen Blick auf das Team richten und agile soziale Entscheidungen im Miteinander treffen. Nur wer bereit ist, diese sozial-emotionale Extra-Mile jeden einzelnen Arbeitstag zu gehen, wird agil arbeiten können. Für alle anderen bleibt Agilität eine schöne, aber unerreichbare Utopie.