Nachdem Jana sich in ihrem letzten Blogbeitrag philosophisch dem Thema Agilität angenähert hat, fiel mir der Impulsvortrag ein, den ich vor einiger Zeit für einen “Agile Release Train” einer großen Versicherung erstellt hatte.

Ausgangspunkt des Vortrags, und Titel dieses Blogbeitrags, ist die in früheren Scrum Guides aufgestellte These, dass Scrum (bzw. agile Methoden) einfach zu verstehen und schwierig zu meistern sind.

Dies liegt in erster Linie daran, dass für eine erfolgreiche agile Transition in den meisten Organisationen ein Kulturwandel nötig ist, da sonst die Mechanismen, die agile Methoden wert- und wirkungsvoll machen, nicht richtig funktionieren.

Wann agile Methoden besonders wirkungsvoll sind


Agile Methoden haben ihren Ursprung in der IT – und es ist kein Zufall, dass sie in dieser Domäne entwickelt wurden.

Insbesondere die Produktentwicklung in dieser Branche ist hochkomplex.

Bei einem großen System arbeiten schnell hundert oder mehr Menschen zusammen. Die Märkte und die Technologien ändern sich in atemberaubendem Tempo und oft sind neben der, an sich schon nicht trivialen, Software auch noch Hardwarekomponenten im Spiel.

Man kann es sich ein bisschen wie auf dem Bild vorstellen. Man hat eine Vorstellung vom Ziel des Vorhabens (die Produktvision), kann aber noch nicht genau sagen, wie der Weg dorthin aussieht und wie sich die Reise entwickelt.

In einer solchen Situation spielen agile Methoden ihre Stärken aus, denn was man sehen kann, ist der Anfang des Weges und man kann in regelmäßigen Abständen überprüfen, ob man noch auf dem Weg zum Ziel ist. Und wenn nicht? Dann wird das Ziel angepeilt, nachjustiert und die Reise fortgesetzt.

In der Wissenschaft, und in der Agilität, nennt man dieses Vorgehen Empirie.

Mit empirischem Vorgehen agil das Ziel erreichen


Wie funktioniert also dieses empirische Vorgehen, das uns dabei unterstützen kann unter großer Unsicherheit und Dynamik unsere Ziele zu erreichen?

Mit Blick auf die Produktvision und unter Kenntnis des aktuellen Zustands wird eine neue Idee entwickelt, wie man sich dem Zielzustand, oder zumindest einem Zwischenziel, von hieraus annähern kann.

Basierend auf dieser Hypothese werden die nächsten Schritte geplant, umgesetzt und die Ergebnisse dieses “Experiments” gemessen.

Die Messergebnisse werden in einem dritten Schritt mit Blick auf die Idee und das Ziel überprüft. Nun wissen wir, ob wir noch auf dem richtigen Weg befinden.

Und mit diesem Wissen können wir den nächsten Schritt angehen.

Der Weg zu unserem Zielzustand ist also eine Abfolge von mehr oder weniger umfangreichen Experimenten bzw. Iterationen, wobei wir nach jedem Zyklus überprüfen, ob wir uns in die richtige Richtung bewegen und unsere Pläne ggf. anpassen können.

Gerade in Scrum ist dieses Vorgehen, die empirische Prozesskontrolle, sehr stark verwurzelt. Der Scrum Guide 2020 nennt drei Säulen, die dieses sehr wirkungsvolle Vorgehen ermöglichen.

 

  • Transparenz

Empirie ist Lernen aufgrund von Beobachtung. Hierfür muss sowohl der Startzustand, als auch das Ergebnis bestmöglich verstanden werden. Eine wichtige Grundlage hierfür ist die Transparenz über das Vorgehen, den Prozess und seine Ergebnisse.

Nur durch Transparenz über alle Bereiche hinweg können die Ergebnisse korrekt geprüft und bewertet werden.

 

  • Überprüfung

Genau diese Überprüfung der Ergebnisse stellt die zweite Säule des empirischen Vorgehens dar. 

In regelmäßigen Abständen müssen alle erstellten Artefakte und angepassten Prozesse in Hinblick auf ihren Beitrag zur Zielerreichung ehrlich überprüft werden.

Diese Überprüfung bildet die Grundlage für weitere Entwicklungs- und Verbesserungszyklen und ermöglichen so die nötigen Veränderungen, um auf Kurs zu bleiben.

 

  • Anpassung

Doch Erkenntnis alleine bringt noch keine (positive) Veränderung. Die dritte Säule setzt an dieser Stelle an.

Jede Abweichung auf dem Weg vom Ziel kann negative Konsequenzen auf den Erfolg des Vorhabens haben, weshalb das Vorgehen schnellstmöglich angepasst werden muss, um sich nicht noch weiter vom Ziel zu entfernen.

Dies funktioniert allerdings nur, wenn die betroffenen Menschen die hierfür notwendige Bereitschaft, die benötigten Kompetenzen und den entsprechenden Mut für solche Entscheidungen haben.

Eine erfolgreiche Implementierung des agilen, empirischen Vorgehens benötigt also einen aufmerksamen und ehrlichen Blick auf das Vorgehen und Teammitglieder, die den Mut und den Willen zu Transparenz und Entscheidungen haben sowie natürlich ein Umfeld in dem ein solches Verhalten nicht sanktioniert, sondern unterstützt wird.

 

Agile Werte als Basis der Empirie

 

Und genau darin liegt der Teil der Agilität der schwierig zu meistern ist.

Für eine erfolgreiche agile Transition und Nutzung des empirischen Vorgehens kann nicht nur ein neuer Prozess ausgerollt werden, die Beteiligten müssen die drei beschriebenen Säulen mit Leben füllen.

Grundlage hierfür ist die Verinnerlichung und das Leben von agilen Werten. Da diese in den verschiedenen Methoden sehr ähnlich sind, betrachtet dieser Blogbeitrag exemplarisch die im Scrum Guide beschriebenen Werte und ihren Einfluss auf das empirische Vorgehen.

Commitment

Um auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten muss dieses, in Form einer Produktvision, definiert und allen Beteiligten kommuniziert werden.

Alle Personen die gemeinsam an der Zielerreichung arbeiten müssen sich über das Ziel einig sein und sich gegenseitig auf dem Weg unterstützen.

So entsteht das für Empirie nötige Gemeinschaftsgefühl und jegliche Entscheidung kann mit dem Ziel abgeglichen werden.

 

Fokus

Eine Produktvision alleine ist für den Erfolg des Vorhabens nicht ausreichend. Die Beteiligten müssen auch fokussiert an ihrer Umsetzung arbeiten.

Hierbei sollte der Fokus, neben dem Fernziel, vor allem auf der nächsten Iteration bzw. auf dem nächsten “Experiment” liegen, so dass dieses schnell und gewissenhaft umgesetzt werden kann.

 

Offenheit

Ein Säule der Empirie - Transparenz - beruht insbesondere darauf, dass Informationen schnell und einfach verfügbar sind, um die nötigen Entscheidungen zu treffen. Hierfür ist eine Kultur der Offenheit notwendig, so dass alle nötigen Informationen, unverfälscht, jederzeit vorliegen. 

 

Respekt

Zur Erreichung dieser Offenheit und Transparenz ist Vertrauen bei allen Beteiligten ein Muss. Dieses basiert auf einem respektvollen Umgang untereinander und auf allen Hierarchieebenen, die in einem agilen Umfeld sowieso eher geringe Abständer aufweisen.

Jeder an der Produktentwicklung Beteiligte sollte immer davon ausgehen, dass alle nach bestem Wissen und Gewissen am gemeinsamen Erfolg arbeiten.

Und Hand aufs Herz, wer geht schon zur Arbeit mit dem Vorsatz möglichst viel Unheil anzurichten.

 

Mut 

Neben einem offenen und respektvollen Arbeitsumfeld und einem zielorientierten und fokussierten Arbeitsweise ist Mut eine wichtige Eigenschaft für alle Mitglieder eines agilen Teams.

Insbesondere der Mut sich Herausforderungen zu stellen und die für die erfolgreiche Umsetzung des empirischen Vorgehens nötigen Entscheidungen zu treffen.

Was helfen die beste Erkenntnisse, wenn sie nicht zu Handlungen führen, die das Team einen Schritt näher zum gemeinsamen Ziel bringt.

 

Wenn all diese Werte von den Beteiligten gelebt werden, wird sich nahezu automatisch, ein vertrauensvolles und hocheffektives Team bilden, das zu Höchstleistungen fähig ist und seine Arbeitsweise jederzeit den Gegebenheiten anpassen kann.

Leider ist Kulturwandel eine der schwierigsten Disziplinen des organisatorischen Wandels, da es unmöglich ist, die Werte anderer Menschen zu ändern. Das macht Agilität so schwer zu meistern. Allerdings kann jeder Mensch sich selbst ändern und das hat man in der Hand. Wenn Du es willst, kannst Du den Wandel hin zu einer agilen Arbeitsweise also tatkräftig unterstützen - worauf wartest Du?